Wohl jeder von euch ist irgendwie schon mit dem Thema Selbstverletzung in Berührung gekommen. Ob selbst betroffen, durch nahe Angehörige oder durch Freunde.
Ich selbst kämpfe schon seit über einem Jahrzehnt damit. Früher verheimlicht, vergraben in mir selbst, nach außen nicht eindeutig zu erkennen. Später wurde es immer schlimmer, ich musste öfter ins Krankenhaus, die ersten Narben blieben.
Aus unsichtbar wurde so mit der Zeit sichtbar. Irgendwann begann ich mit meiner Familie zu reden, mit meinen engsten Freunden. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Alle waren auf ihre Art schockiert, manche gerieten in Panik, andere verharmlosten.
Ist es gut darüber zu reden? Für mich war es sehr schwierig. Ich habe mich extrem schuldig gefühlt, konnte die Blicke voller Mitleid und Unverständnis nicht aushalten. Auch Wut schlug mir entgegen, Wut aus Verzweiflung, weil man mir helfen wollte und es nicht konnte. Oft hat dies leider die Abwärtsspirale angetrieben.
Ich habe aber auch erfahren dürfen, dass es Menschen gibt, die anders reagieren. Mit Verständnis, einem offenen Ohr und einem offenen Herzen. Mein Verlobter hat sich zum Ziel gemacht, meine Schutzmauer zu durchbrechen, die ich um meine Seele errichtet habe. Ziegel für Ziegel haben wir seitdem gemeinsam diese Mauer abgetragen und die Bauarbeiten dauern noch an. Er ist und war bedingungslos da, hat mich ermutigt, ihn anzurufen, bevor ich mich verletzte. Denn in aller Regel wurde es erst so richtig schwierig, wenn ich alleine war. Er hört zu, ermutigt mich zu reden, scheut sich nicht vor meinen Verletzungen. Das hilft mir so sehr.
Meine Angehörigen waren meist völlig überfordert. Es ist extremst schwer zuzusehen und nicht in der Lage sein können zu helfen. Neben der Hilfe von Psychotherapie und Medikamenten, auf die ich noch eingehen werde, ist es aber auch das Umfeld, das trotzdem irgendwie damit umgehen muss und im besten Fall helfend zur Seite stehen sollte.
Ich glaube, das Wichtigste ist, hinzuschauen, nicht vorwurfsvoll oder verärgert oder mitleidig, sondern mit Mitgefühl und Liebe. Es ist unendlich schwer, hier die Balance zwischen zu viel und zu wenig zu finden. Oft weiß man selbst nicht, was man braucht. Allzu verständlich ist es, dass andere es nicht wissen können. Oft hilft es einfach nur zuzuhören. Bei mir hat das zwar an der Sache selbst nichts geändert, aber die Zeit überbrückt, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
Im Laufe der vielen Jahre in Therapie habe ich mir oft die Frage gestellt, warum ich mir selbst Schmerz zufüge. Es gibt dafür bestimmt keine allgemein gültige Antwort. Was ist der unmittelbare Anlass? Was der eigentliche Grund, der viel tiefer liegt. Ganz einfach gesprochen, ist es ein Hilferuf der Seele. Wenn man um Hilfe ruft, dann will man, dass es jemand hört. Nicht anders ist es bei Selbstverletzungen. In aller Regel war ich mir dessen aber nicht bewusst. Niemand verletzt sich bloß aus Spaß, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist eine weit verbreitete Ansicht, aber ein gefährlicher Irrglaube. Ich habe meine Verletzungen fast nie versteckt. Das bedeutet aber nicht, dass ich darauf angesprochen werden wollte. Sie gar herzeigen wollte. Eher das Gegenteil war der Fall, meistens wollte ich genau das nicht. Wie ich schon geschrieben habe, war es bei mir auch, gerade in den ersten Jahren, für nicht Eingeweihte nicht klar erkennbar, woher meine Wunden stammen. Auch viele, die mich gut kannten, kamen gar nicht auf die Idee, was wirklich dahinter steckte.
Allerdings habe ich meine Verletzungen im privaten Umfeld nicht versteckt. Anders war das natürlich in der Arbeit. Wenn mich aber jemand gefragt hat, was passiert sei, habe ich ehrlich geantwortet. Manchmal führte dies zu kuriosen Situationen. Beim Klettern hat mich eine Bekannte gefragt, ob ich mich mit einer Katze angelegt hätte. Ich war in dem Moment etwas sprachlos. Habe die Situation auch nicht gleich aufgeklärt. Später, als ich wieder daheim war, habe ich in Ruhe eine Nachricht geschrieben und erklärt, was los war. Ähnliche Situationen gab es öfter. Das fand ich zwar in dem Moment unangenehm, aber es hat mir auch gezeigt, dass die meisten damit umgehen konnten und mich nicht anders als davor behandelt haben. Eigentlich reagierten alle mit Verständnis und viele boten Hilfe an. Für mich war es leichter, mit jemandem über meine Probleme zu sprechen, der meine Geschichte nicht kannte, jemand außerhalb meiner Familie. Es gab eine gute Freundin, die stets ein offenes Ohr hatte und die ich oft um Hilfe gebeten habe. Für mich war es unsagbar wertvoll, dass ich wusste, dass ich nicht alleine bin, dass ich gemocht werde, wichtig bin. Eine schwierige Kindheit, Probleme in der Familie, Mobbing in der Schule hatten dazu geführt, dass mein Selbstvertrauen damals komplett in Trümmern lag. Meine Seele hatte viele Wunden, aber niemand sah sie, so tief sie auch waren.
Außerdem hatte ich eine gigantische Wut in mir. Eine Wut, die ich kaum beschreiben kann. So überwältigend, dass sie kaum auszuhalten ist. Ich wusste aber nicht, gegen wen sie sich richtet. Sie war einfach da, egal wohin ich ging. Ich trug sie, gleichsam wie ein Rucksack, stets mit mir herum. Wenn ich mich dann, aus irgendeinem, noch so geringfügigen Anlass, über irgendetwas oder -jemanden ärgerte, bin ich explodiert. Teils nach außen, meist aber nach innen. Ich wendete die Wut gegen mich selber. In der Therapie packe ich den Rucksack Stück für Stück aus und lerne die Wut dorthin zu leiten, wo sie eigentlich hingehört.
Manches Mal hilft auch Sport, diese Wut zumindest ein bisschen zu dämpfen. Beim Klettern kam ich in Kontakt mit einem sehr lieben Psychiater, der mich ermutigt hat, zu versuchen, ob mir Medikamente helfen würden. Dies natürlich neben der Psychotherapie, die in meine Augen das Wichtigste ist. Ich war zu Beginn bei einer Psychoanalytikerin in Behandlung. Ich kann diese Richtung nicht empfehlen. Nur selber reden, selbst bei akuten Suizidgedanken alleine gelassen zu werden. Für mich war und ist das nichts. Ich war einige Jahre bei ihr in Therapie. Eigentlich half sie nicht, es viel mir aber schwer dies einzusehen, auch weil die Therapeutin nicht müde wurde zu sagen, dass es an mir lag. Würde ich mich nicht so dagegen wehren, würde es helfen.
Wie falsch diese Aussagen waren, habe ich erst bei meiner jetzigen Therapeutin gemerkt. In der ersten Stunde sagte sie mir, sie wollte nur ein Versprechen von mir, dass ich mich, wenn es mir sehr schlecht ginge, bei ihr melde. Von Anfang an habe ich mich bei ihr gut aufgehoben gefühlt und in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Trotzdem war es eine sehr aufwühlende Zeit. Mein jüngster Onkel war plötzlich verstorben, ich musste mich an eine neue Therapie und an Medikamente gewöhnen. Die Medikamente halfen, hatten aber auch Nebenwirkungen. Ich habe stark zugenommen, auch wenn ich vorher fast untergewichtig war. Das war und ist nicht einfach für mich, gerade mein Körper war in Schulzeiten ein Mobbinggrund. Außerdem intensivierten sich meine Verletzungen. Medikamente führen zwar dazu, dass die grundsätzliche Anspannung kleiner wird, man sie weniger spürt. Allerdings, wenn ich mich trotzdem verletzte, war es schlimmer als sonst. Ich brauchte „mehr“ als vor den Medikamenten, damit ich mich spüren konnte. Das war vor etwa vier Jahren. Das erste Mal musste ich ins Krankenhaus, um meine Wunden ärztlich versorgen zu lassen. Das war ein sehr merkwürdiges Gefühl, ist mir davor Gott sei Dank erst zweimal in meinem Leben passiert. Einmal als kleines Kind und vor ein paar Jahren wegen einer Gehirnerschütterung nach einem Fahrradsturz. Und nun hatte ich mich selbst dorthin gebracht. Das Personal war freundlich und verständnisvoll. Das ist nicht immer der Fall gewesen, aber richtig ungut waren Ärzte und Krankenschwestern nie. Es ist vorgekommen, dass mich das Krankenhaus an eine Psychiatrie überwiesen hat. Dort allerdings bin ich, mit dem Hinweis, dass ich ohnehin psychiatrisch versorgt und in Therapie war, unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt worden.
Das ist eines der Missstände, die ich im österreichischen Gesundheitssystem kritisiere. Es wird blakatiert, dass seelische Krankheiten mit körperlichen gleichzusetzten sind. In der Praxis muss man aber die Kosten der Psychotherapie selber tragen, ebenso einen guten Psychiater. Es gibt zwar Therapeuten der Kassa, allerdings sind diese sehr rar und die Wartezeiten entsprechend lange. In Wien stehen einem Kassenpsychiater lediglich zehn Minuten für einen Patienten zur Verfügung, höchstens. Wenn man bedenkt, dass man diesen etwa einmal im Moment aufsucht, ist das, höflich gesagt, ein schlechter Witz. Anders ist es etwa im Bundesland Salzburg, hier stehen einem dreißig Minuten zur Verfügung. Ich könnte, hätte ich nicht meine Familie, die mir mit Rat und Tat, auch aus finanzieller Sicht, zur Seite steht, diese Kosten unmöglich tragen.
Neben meiner Familie, die mich nie im Stich gelassen hat, ist mir mein Verlobter eine riesige Stützte. Wir sind in einer sehr stürmischen Zeit zusammengekommen. Meine Trennung aus einer jahrelangen, aber unglücklichen Beziehung war noch nicht allzu lange her. Wir haben sehr viel gemeinsam durchgestanden und einander Halt gegeben. Er war und ist mein Anker. Wir teilen unser Leben, reden über alles. Er hat mich immer wieder ermutigt, mich selbst zu lieben, mir auf alle möglichen Arten und Weisen gezeigt, dass ich wertvoll bin und liebt mich genau so, wie ich bin. Wie er sagt, ist es sein größter Wunsch, dass ich mich so sehe, wie andere mich sehen. Diese Liebe hat so viele Wunden geheilt und ist ein unendlich kostbares Geschenk und ich bin aus tiefstem Herzen dankbar dafür. Diese Liebe und die Therapie sind für mich der Schlüssel zur Heilung. Der Weg ist lang und steinig. Aber es ist wert ihn zu gehen. Und irgendwann, da bin ich mir sicher, werde ich auch mein Ziel erreichen.